Man stelle sich folgende Situation vor: Auf dem Spielplatz spielen ein paar Kinder. Eines bewirft die anderen mit Steinen und Sand. Da kommt ein Erwachsener und stellt diesem unangepassten Kind die Freundschaft mit allen in Aussicht, wenn es sich bessert – mehr noch, es darf gleich in die Wohnung zu den anderen Kindern ziehen, wenn es sich bessert. Auch wenn das Kind nicht sofort aufhört, mit Steinen und Sand um sich zu werfen, ist das für den Erwachsenen kein Grund, sein Angebot zurückzunehmen. Im Gegenteil. Um das verhaltensauffällige Kind nicht zu demotivieren, wird das Angebot auch ständig bekräftigt. Die anderen Kinder werden übrigens überhaupt nicht nach ihrer Meinung gefragt. Doch auch dieses Entgegenkommen empört dieses sonderbare Kind. Es war nämlich der falsche Zeitpunkt, an dem der Erwachsene es angesprochen hat.
Genau so verhalten sich die EU-Kommission und die Türkei.
Jeder noch so winzige bzw. vorgegaukelte Fortschritt seitens der Türkei wird von der EU-Kommission aufgeblasen und als Meilenstein bezeichnet. Jede Form von Drohung wird gegenüber der Türkei vermieden. Die Todesopfer der Niederschlagung der Proteste im Gezi-Park und der massive Einsatz von Tränengas werden leise kritisiert, während das Erfüllen von Mindeststandards für Minderheiten seitens der türkischen Regierung als Meilenstein gehuldigt werden. Jetzt dürfen Musliminnen in der Türkei auch an öffentlichen Orten ein Kopftuch tragen (auf der Universität, Amtsgebäuden etc.). Dafür wird Alkoholkonsum eingeschränkt. Wie überaus fortschrittlich, westlich und frei.
Dass der EU-Bevölkerung das Wasser bereits bis zum Hals steht und niemand noch ein weiteres Nettoempfängerland mit 40 Millionen aufgehaltenen und förderungswürdigen Händen gebrauchen kann, ist der Kommission ziemlich egal. So gesehen harmonieren die EU-Kommission und die türkische Regierung gar nicht einmal so schlecht. Beide pfeifen auf die Demokratie oder den Willen des eigenen Volkes.
Die Doppelmoral der EU-Kommission wird aber erst so richtig deutlich, wenn man ihre künstliche, moralisierende Empörung gegenüber Ungarns Ministerpräsidenten Viktor Organ, mit der Arschkriecherei nachsichtigen Diplomatie des Nationalisten und Islamisten Reep Tayyip Erdoğan vergleicht. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass es während Anti-Orban Protesten zu Todesopfer gekommen wäre, während es in der Türkei sehr wohl zu Todesopfern kam. Befragt man die Kurden über die Großherzigkeit der Türken, bekommt man auch ein anderes Bild vom Fortschritt der türkischen Menschenrechtslage, als die EU-Kommission uns glauben machen will. Von den eingesperrten und verschwundenen regierungskritischen Journalisten in der Türkei wollen wir erst gar nicht sprechen und auch nicht von den mysteriös ermordeten christlichen Priestern.
Aber das Beste kommt zum Schluss: Wie man es macht, so macht man es falsch. Die Türkei ist empört, dass die EU (diese abscheulich christliche EU) es wagt, während des islamischen Opferfestes die Türkei wegen ihres unglaublichen Fortschrittes in Menschenrechtsfragen zu loben.
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